Geschichtsforschung und Identitätsstiftung.
Von der "schwulen Ahnenreihe" zur Dekonstruktion des
Homosexuellen
Die Pioniere Hössli und Ulrichs und die erste "Homosexuellen"-Bewegung Der Nationalsozialismus und die frühe BRD Die Schwulenbewegung der siebziger und achtziger Jahre Die neunziger Jahre Zusammenfassung und Thesen Ausblick Literatur Nachweis
Seit einzelne gleichgeschlechtlich orientierte Männer um die Mitte
des 19. Jahrhunderts begannen, sich als Teil einer gesellschaftlichen Gruppe
wahrzunehmen und ihre Homosexualität zu veröffentlichen, griffen
sie auf Geschichte zur Selbstbestätigung und als Strategie für
das Werben um die gesellschaftliche Akzeptanz von Homosexualität zurück.
Zentrales Element war hierbei insbesondere die Präsentation einer
"Ahnenreihe" von historischer Persönlichkeiten, wie Politikern, Künstlern,
Schriftstellern und Feldherren, die als homosexuell vorgestellt wurde und
dem Rezipienten vermitteln sollte, Teil einer großen Gemeinschaft
von "Schwulen" zu sein. Seit den siebziger Jahren werden auch nicht prominente
"schwule Brüder im Geiste" und (konstruierte) Gruppen "schwuler Vorfahren"
von der Forschung vorgestellt. Die konstruierte "Ahnengalerie" wurde und
wird als positives Identifikationsangebot und Coming-out-Hilfe für
gleichgeschlechtlich orientierte Männer offeriert.
Wir wollen im folgenden die Strategie der Legitimation von Homosexualität
durch Geschichte von den Vorläufern und Pionieren der "Homosexuellen"-Bewegung
des Kaiserreichs über die Weimarer Republik, die fünfziger und
sechziger Jahre, die starke Orientierung auf "Schwule" als vergessene Opergruppe
des Nationalsozialismus in den siebziger Jahren bis in unsere Gegenwart
hinein betrachten. Die Entwicklung der Geschichtsschreibung über gleichgeschlechtliches
Sexualverhalten in denAchtzigern und Neunzigern soll in struktureller,
inhaltlicher und methodischer Hinsicht kurz beleuchtet werden und in Zusammenhang
mit der Situation der heutigen "Schwulenbewegung" gesetzt werden.
Wir beschränken uns in diesem Beitrag auf "schwule" Geschichtsschreibung,
da die FrauenLesbengeschichte nicht simpel parallelisiert werden kann.
Ferner konzentrieren wir uns auf den deutschen Sprachraum.
Die Pioniere Hössli und Ulrichs und die erste "Homosexuellen"-Bewegung |
Für die ersten Pioniere "schwuler" Emanzipation, den Hutmacher Heinrich Hössli (1784-1864) und den Jurist Karl Heinrich Ulrichs (1825-1895), war der wichtigste historische Bezug derjenige auf die griechische und römische Antike. Im bürgerlichen Bildungskanon des 19. Jahrhunderts gab es kaum einen geeigneteren Anknüpfungspunkt für eine positive Betrachtung mannmännlicher Liebe und Sexualität: Zum einen war diese in der Antike in bestimmten Formen gesellschaftlich akzeptiert und institutionalisiert gewesen (Päderastie im klassischen Griechenland), was vielfachen Ausdruck in kulturellen Zeugnissen aller Art fand; zum anderen wurde die antike Kultur von Hösslis und Ulrichs' ZeitgenossInnen sehr hoch bewertet und als Vorbild für die eigene Zeit betrachtet. Somit lag es nahe, zu argumentieren, Völker, die eine so großartige Kunst und Literatur hervorgebracht hätten, könnten nicht sittlich verdorben gewesen sein. So schreibt Ulrichs: "Der edle urnische (= homosexuelle; d.V.) Trieb hat, wo er zu freier Entfaltung gelangte, wie z.B. im alten Griechenland und Rom, auch sonstige edle Blüthen getragen: wie mir scheint edlere, als je dion. (dionische = heterosexuelle; d.V.) Liebe sie trug. Zu Plato's bewunderten Werken, Gastmahl und Phädrus, hat ihn begeistert ein Ideenaustausch mit seinem Geliebten. Was vermögt ihr (die Dioninge; d.V.) dem an die Seite zu setzen" (Ulrichs 1865/1994: 29)? Der Bezug auf die Antike sollte ferner zeigen, daß es Homosexualität zu allen Zeiten gegeben habe und sie somit in der menschlichen Natur verankert sei. Daher sei es falsch, von einem "widernatürlichen" Laster zu sprechen, das ausgerottet werden könne oder müsse. In diese Argumentation legt Hössli sein ganzes aufklärerisches Pathos: "(...) nur Zeitalter der Hexen und Ketzer, die von ihrer eigenen, wie von aller Natur keinen wahren Begriff haben, können an eine Verpflanz- oder Ausrottbarkeit, an ein Mindern oder Mehren einer Geschlechtsliebe denken und glauben; ist sie je gewesen, so ist sie noch, und wenn sie noch ist, so war sie immer: gewiß sie hat sein müßen, in den Grundfesten der ewigen Menschennatur hat sie vorhanden sein müssen, ehe die unsterblichen Alten sie in Wissenschaft und Gesetz, in Kunst und Leben, in ihren geheiligten Ideen festhalten und darstellen konnten" (Hössli 1838/1996: 238). Erst durch mittelalterlichen Aberglauben sei diese reine, großartige "Liebe der Griechen" in ein Laster und Verbrechen umgefälscht worden, und die moderne Erkenntnis der menschlichen Natur müsse sie wieder befreien.
Bereits bei Hössli und Ulrichs zeigt sich die Ambivalenz "schwuler" Geschichtsschreibung: Einerseits war es wichtig, in einer Umwelt, die gleichgeschlechtliche Sexualität diffamierte und bestrafte, Vorbilder für das Ausleben der eigenen Bedürfnisse zu finden, um zu einem positiven Selbstbild zu gelangen. Ulrichs ist darüber hinaus bestrebt, über die historischen Identifikationsfiguren den Zusammenhang der "Urninge" als Gruppe zu stärken. Immer wieder spricht er von ihnen in der Wir-Form und konfrontiert die anderen, die "Dioninge", mit der Forderung nach Entkriminalisierung und gesellschaftlicher Akzeptanz. Die vielen antiken Schriftsteller, Herrscher usw., die er anführt, zählt er dabei zur In-Group der Urninge. Andererseits ist jedoch von Hössli über Ulrichs zu Magnus Hirschfeld eine zunehmend naturwissenschaftlich-medizinisch bestimmte Betrachtung des "Homosexuellen" festzustellen und damit dessen statische Definition, die oft heute noch das schwule Identitätskonstrukt kennzeichnet. Auch der Bezug auf die Historie ordnet sich dieser - im Grunde ahistorischen - Konzeption unter. Der emanzipatorische Charakter dieser Identitäts-Konstruktionen wurde zum einen durch den Grundtenor unkritischer Wissenschaftsgläubigkeit eingeschränkt, zum anderen dadurch, daß alle frühen Theorien zur Homosexualität auf der Festschreibung der seit dem 18./19. Jahrhundert neu konstruierten Geschlechtsrollenmuster beruhten. Die 1903 gegründete "Gemeinschaft der Eigenen" betonte ebenso wie männerbündlerische Ideologen - etwa Hans Blüher - unter Bezugnahme auf die "großen Männer" der Vergangenheit, daß Homosexuelle, entgegen dem Klischee, keineswegs "verweiblicht" seien, und grenzten sich vehement von Ulrichs und Hirschfelds Theorien ab. Aber auch die beiden letzteren blieben den gängigen Geschlechterstereotypen ihrer Zeit verhaftet. Eine erotische Anziehung konnten sie sich nur zwischen einem "männlichen" und einem "weiblichen" Pol vorstellen. Wenn diese sich nicht in den Geschlechtsorganen zeigten, dann statt dessen im Charakter (Ulrichs) bzw. in Körperbau und Charakter (Hirschfeld). In die historischen Bezüge ordneten sich diesen Theorien ein. Nicht zuletzt führte die Beibehaltung eines bürgerlichen Weltbildes zur unkritischen Idealisierung "großer Männer" sowie von Institutionen wie der antiken Päderastie, ohne deren patriarchalen, frauenfeindlichen Kontext zu reflektieren.
Magnus Hirschfeld führt in seinem Hauptwerk "Die Homosexualität des Mannes und des Weibes" (1914) zahlreiche historische Beispiele an, die nun nicht mehr nur aus der Antike stammten, sondern auch aus anderen Epochen. Er konnte sich dabei zum einen auf diverse Mediziner stützen, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts angefangen hatten, neben zeitgenössischen autobiographischen Zeugnissen in gut positivistischer Manier historische "Fälle" zu sammeln und in medizinischen Büchern und Fachzeitschriften als "Krankengeschichten" zu veröffentlichen (z.B. Moll 1910) und für ihre zumeist pathologisierenden Theorien zu benutzen, die aber auch zur Selbstfindung von Homosexuellen beitrugen (Müller 1991). Zum anderen konnte sich Hirschfeld auf den Forschungsstand in den seit den neunziger Jahren erschienenen Publikationen der "Homosexuellen"-Bewegung stützen. Insbesondere in dem von ihm herausgegebenen "Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen" erschienen zahlreiche umfangreiche historische Beiträge: Biographien einzelner Persönlichkeiten (z.B. Karsch 1902, Karsch 1903b, von Roemer 1902), Monographien und Quellensammlungen zur Geschichte der "Homosexuellen"-Verfolgung (von Roemer 1906) und nicht zuletzt Beiträge über die Pioniere der "Homosexuellen"-Bewegung, Hössli und Ulrichs (Karsch 1903a, Ulrichs 1899). In den genannten und anderen Aufsätzen wurde umfangreiches Quellenmaterial herangezogen, und einige von ihnen sind bis heute unersetzlich.
Die andere wichtige Zeitschrift der deutschen "Homosexuellen"-Bewegung um 1900, "Der Eigene", befaßte sich hingegen überwiegend auf literarische Weise mit den historischen "Ahnen". Neben die bekannten antiken Persönlichkeiten (Sokrates, Platon, Alexander der Große u.a.) traten nun insbesondere Renaissance-Künstler (Leonardo da Vinci, Michelangelo) sowie Herrscher und Politiker aus neuerer Zeit (Heinrich III. von Frankreich, Friedrich II. von Preußen u.a.). Die vom Bildungsbürgertum bewunderten "großen Männer" dienten als Identifikationsangebot, und die Episoden aus der Verfolgungsgeschichte lieferten einen Baustein zur Konstituierung einer um ihre Rechte kämpfenden Minderheit, auch zur historischen Legitimation dieses Kampfes. Es kristallisierte sich eine regelrechte "schwule Ahnenreihe" heraus, analog zur Herausbildung eines "schwulen" literarischen Kanons, der ebenfalls um 1900 unter maßgeblicher Beteiligung der Publikationen des 1897 gegründeten "Wissenschaftlich-humanitären Komitees" und der "Gemeinschaft der Eigenen" entstand. Zwischen diesem literarischen Kanon und der "Ahnenreihe" historischer Persönlichkeiten gab es zahlreiche Verschränkungen (Keilson-Lauritz 1997: 344-357).
Von der etablierten akademischen Geschichtswissenschaft wurden diese Ansätze einer "schwulen" Geschichtsschreibung vollständig ignoriert. Die Mehrzahl der Universitätshistoriker war auf die Politik der Herrschenden fixiert und interessierte sich kaum für alltags- und sozialgeschichtliche Themen. Sexualität wurde als Sache der Medizin angesehen, nicht als Thema für die Geisteswissenschaften. Einige empfanden es allerdings als Angriff, wenn ihre Heroen, wie etwa Friedrich II. von Preußen, als homosexuell bezeichnet wurden, und verwandten einige Mühe darauf, dies zu widerlegen (Volz 1928). Nur in der Nische der "Kulturgeschichte", damals ein buntes Sammelbecken für allerlei Themen, die nicht in den Mainstream der Staats- und Diplomatiegeschichte paßten, fanden sich gelegentlich Angaben zur Geschichte der Sexualität, auch der Homosexualität, allerdings auch hier oft unter dem Vorzeichen einer konservativen Moral (Hashagen 1905).
Das "Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen" mußte 1923 infolge
der Inflation eingestellt werden. Die etablierte "homosexuelle Ahnenreihe"
wurde in den diversen "Homosexuellen"-Zeitschriften der Weimarer Republik
weiter tradiert. Die eigenständige Geschichtsforschung aus "homosexuellem"
Blickwinkel sollte jedoch das Niveau der "Jahrbücher" für einige
Jahrzehnte nicht wieder erreichen. Dafür blühten im nunmehr liberaleren
Klima die populärwissenschaftlichen "Sittengeschichten" auf, die oft
auch historische Angaben zur Homosexualität enthielten, meist recht
voyeuristisch und sensationell aufgemacht waren und auf ein heterosexuelles
Massenpublikum zielten. Bemerkenswert ist ferner das Erscheinen der wohl
ersten akademischen Monographie zur (Literatur-)Geschichte der Homosexualität,
Hans Dietrich Hellbachs germanistischer Dissertation über "Freundesliebe
in der deutschen Literatur" (1931), die von der Fachöffentlichkeit
weitgehend ignoriert wurde.
Der Nationalsozialismus und die frühe BRD |
Alle diese Ansätze wurden durch den Machtantritt des NS-Regimes 1933 abgebrochen. Wenn in den darauffolgenden zwölf Jahren von Homosexualität und ihrer Geschichte die Rede war, dann auf äußerst diffamierende Weise. Genannt sei der Jurist Rudolf Klare, der in seinem von der NS-Ideologie geprägten Werk "Homosexualität und Strafrecht" (1937) auch die Geschichte der Strafverfolgung gleichgeschlechtlichen Verhaltens sowie die Geschichte der "Homosexuellen"-Bewegung referiert, die Ausschaltung der letzteren begrüßt und eine Strafverschärfung fordert. Im Abschnitt zur Geschichte des Strafrechts konnte er sich auf den bekannten Rechtshistoriker Karl August Eckhardt stützen. Der Ordinarius und SS-Untersturmführer Eckhardt, Mitglied der SS-Forschungsorganisation "Ahnenerbe" und persönlicher Freund Heinrich Himmlers, schrieb 1935 in einem Aufsatz, der auch in der SS-Zeitung "Das Schwarze Korps" abgedruckt wurde: Bei den Germanen sei es üblich gewesen, die "Entarteten" "auszumerzen". Die Überfremdung durch römisches Christentum, Aufklärung und Liberalismus habe diese Praxis beendet und zuletzt gar die allgemeine Ablehnung der Homosexualität aufgeweicht. Es sei notwendig, wieder zu den germanischen Methoden zurückzukehren. Professor Eckhardt, der 1945 aus seinem Amt entfernt wurde, forderte also nichts weniger als die Todesstrafe für Homosexuelle (Eckhardt 1935, 1938).
In den fünfziger Jahren wurden sowohl der literarische "homosexuelle"
Kanon als auch die klassische "Ahnenreihe" in den "Homosexuellen"-Zeitschriften
wieder aufgenommen. Meist wurde die Selbstbestätigung durch Berufung
auf allgemein anerkannte Geistesgrößen, wie sie auch in den
Zeitschriften der Weimarer Republik gängig gewesen war, fortgeschrieben.
Für eigenständige Forschungsansätze war - angesichts der
Randständigkeit der damaligen "Homosexuellen"-Organisationen und ihrer
Periodika im repressiven Klima der frühen BRD - kein Raum. In dem
etwas anspruchsvolleren Organ der "Gesellschaft für Menschenrechte",
"Humanitas", erschien jedoch 1954 erstmals ein Bericht über Homosexuelle
in den Konzentrationslagern der NS-Zeit (Classen von Neudegg 1954).
Die Schwulenbewegung der siebziger und achtziger Jahre |
Die "Studentenbewegung" brachte auch für Schwule einen Emanzipationsschub:
Anfang der siebziger Jahre entstanden zunächst im studentischen Umfeld
Schwulengruppen, die bald zu einer breiteren Schwulenbewegung anwuchsen.
Die Suche nach Identifikationspunkten führte auch zur Neubegründung
einer Geschichtsforschung aus schwulenemanzipatorischer Perspektive. Die
thematischen Schwerpunkte waren die Verfolgung Homosexueller im NS-Staat
und - damit verbunden - die Geschichte der "Homosexuellen"-Bewegung des
Kaiserreichs und der Weimarer Republik.
Die Studentenbewegung hatte in den sechziger Jahren damit begonnen,
zu entlarven, daß die BRD-Eliten das NS-Regime getragen hatten. Die
zunächst auf einzelne Personen bezogene und punktuelle Kritik erreichte
in den frühen siebziger Jahren den wissenschaftlichen und publizistischen
Diskurs. Zentral neben der Analyse des NS-Staates war dabei auch die Bezugnahme
auf den Widerstand im Nationalsozialismus und damit verbunden, auf herrschaftskritische
soziale Bewegungen, wie die ArbeiterInnen- und Frauenbewegung, mit denen
sich viele, die den Protest trugen, identifizierten - teils im Sinne einer
Mystifizierung von Massenbewegungen. Diese Vorstellungen prägten auch
die Geschichtsschreibung der Schwulenbewegung.
James Steakley, ein in der BRD studierender US-amerikanischer Germanist,
verfaßte 1975 die erste Studie zur Geschichte der früheren "Homosexuellen"-Bewegung,
zuerst als Serie in der kanadischen Schwulenzeitschrift "Body Politic",
dann auch als Buch (Steakly 1975). Amerikanische Verlage begannen, Quellen
wie die Schriften von Ulrichs oder Hirschfeld nachzudrucken (Dokuments
1975). Über diesen Umweg erreichte die Kenntnis über die erste
"Homosexuellen"-Bewegung die BRD-Schwulenbewegung. Ein damaliger Aktivist
schrieb im Rückblick: "Daß es schon einmal eine Schwulenbewegung
gegeben hatte, ich habe nie davon gehört. Daß es unter den Nazis
eine Schwulenhatz gab und sie Gesetze wie Rechtsprechung verschärft
hatten, ich habe nie davon gehört. (...) So gründlich hatten
die Nazis tabula rasa gemacht, daß ich von Schwulens nie eine Andeutung
von politisch besseren Zeiten (...), nie einen Gedankenschimmer von Bewegung
oder Aufbegehren mitbekam. Auch das ist Geschichtslosigkeit: keine Überlieferung
zu haben." (Drost 1985: 13)
Deutsche Autoren zogen mit eigenen Quellenpublikationen nach (Hohmann
1977). Die erste Euphorie führte allerdings auch oft zu Kritiklosigkeit.
In die deutsche Ausgabe des Büchleins von John Lauritsen und David
Thorstad "The Early Homosexual Movement 1864-1935" (Originalausgabe: New
York 1974) wurde erst nachträglich ein Zusatz aufgenommen, daß
einige Ansätze früher "homosexueller" Theoretiker - wie Hans
Blüher oder Benedict Friedländer - ausgesprochen frauenfeindlich
waren (Lauritsen/Thorstad 1984: 86-87).
In der zweiten Hälfte der siebziger und in den achtziger Jahren rückten in der Beschäftigung mit der NS-Zeit die verschiedenen Opfergruppen in den Vordergrund. Der Rosa Winkel wurde zum Erkennungszeichen und Symbol der Schwulenbewegung, das auch außerhalb der BRD aufgegriffen wurde. Mit dem Tragen des Rosa Winkels wurde zwar zu Recht auf die Kontinuität der Homosexuellenverfolgung über 1945 hinaus aufmerksam gemacht; es ist jedoch auch nicht unproblematisch, die Situation der BRD-Schwulen pauschal mit der von KZ-Häftlingen zu vergleichen. Außerdem wurde auch hier einer unkritischen Identifikation Vorschub geleistet. Schließlich waren, wie nur von einigen bemerkt wurde (Herzer 1985), Schwule auch Täter und Mitläufer des NS-Regimes gewesen.
Die Schwulen waren wohl die erste der "vergessenen" Opfergruppen, die auf ihr Schicksal aufmerksam machte und dies gleichzeitig dazu nutzte, gesellschaftliche Akzeptanz einzufordern. Dies schlug sich auch in der historischen Forschung von Schwulen nieder. Bereits 1972 war erstmals der Bericht eines Rosa-Winkel-Häftlings in Buchform erschienen (Heger 1972). 1977 erschien die erste wissenschaftliche Studie über schwule KZ-Häftlinge, herausgegeben von dem Soziologen Rüdiger Lautmann (1977: 325-365). Hans-Georg Stümke und Rudi Finkler lieferten 1981 die erste zusammenfassende Darstellung zur Geschichte schwuler Männer in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert, mit einem Schwerpunkt auf der Verfolgung in der NS-Zeit (Stümke/Finkler 1981). Alle diese Forschungen fanden außerhalb der akademischen Geschichtsschreibung statt. Die Autoren kamen entweder aus anderen Fächern (Lautmann) oder standen außerhalb des unversitären Wissenschaftsbetriebs.
In den achtziger Jahren setzte eine Ausdifferenzierung und Institutionalisierung
dieser semiprofessionellen Geschichtsforschung über gleichgeschlechtlich
orientierte Männer ein. Ein Meilenstein war die Ausstellung "Eldorado.
Homosexuelle Frauen und Männer in Berlin 1850-1950" im Berlin Museum
1984. Der Ausstellungskatalog brachte eine Vielzahl neuer Forschungsergebnisse
und erstmals eine Art "schwuler" Stadtgeschichte (Eldorado 1984). Im Anschluß
daran gründete sich der Verein "Freunde eines Schwulen Museums in
Berlin e.V.", der Archiv- und Ausstellungsräume anmietete und 1987
eine eigene Zeitschrift, "Capri", begründete. Seitdem sind in mehreren
Städten ähnliche Initiativen entstanden. Hervorzuheben ist das
"Centrum Schwule Geschichte" in Köln, das auf eine 1987 gezeigte kleine
Ausstellung über "Schwule" in Köln in den zwanziger Jahren zurückgeht
und bei dem sich der Professionalisierungsprozeß an den Publikationen
gut ablesen läßt (Dornröschen 1987; Limprecht et al. 1991;
Balser et al. 1994). Parallel zu neuen Entwicklungen in der Geschichtswissenschaft
wie der Entstehung von Geschichtswerkstätten und Oral-History-Projekten
erforschten schwule Geschichtsforscher nun mittels alltags- und sozialgeschichtlicher
Ansätze den "gewöhnlichen Homosexuellen". Zentraler Gegenstand
blieb aber die Verfolgungsgeschichte - nun lokal und regional ausdifferenziert
-, daneben die Geschichte der jeweiligen Subkultur. Die Methoden veränderten
sich, die Materialbasis wurde breiter. So wurden u.a. neben zahlreichen
schriftlichen Quellen - überwiegend Dokumente der Verfolger - verstärkt
auch Zeitzeugeninterviews eingesetzt. Der Blick richtete sich nun nicht
mehr auf eine "Ahnengalerie" von Prominenten, sondern auf eine ganze (konstruierte)
Gruppe von "Vorfahren", und auch auf einzelne Pioniere der Bewegung, wie
Magnus Hirschfeld.
In diesem Zusammenhang wurde auch der Einsatz für das Gedenken
an die homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus zu einem wichtigen geschichtspolitischen
Aktionsfeld für Schwule. In vielen Städten entstanden Initiativen,
die sich für die Einbeziehung der homosexuellen Opfer auf Gedenktafeln
oder die Errichtung eigener Mahnmale engagierten. Vorbild war das 1987
errichtete "Homomonument" in Amsterdam. In den KZ-Gedenkstätten gab
es zuweilen Konflikte mit den Organisationen der politischen Häftlinge
und deren Homophobie (Richter 1995).
In den siebziger Jahren entstand das Konzept einer schwulen Identität,
an dem sich viele gleichgeschlechtlich liebende Männer orientierten.
Die schwule Identität konnte sich spätestens in den achtziger
Jahren als hegemoniale Vorstellung unangefochten durchsetzen, während
es in früheren Zeiten, insbesondere in den zwanziger Jahren, diverse
verschiedene und auch konkurrierende Identitätskonzepte gegeben hatte.
Der Schwulenbewegung gelang es auch durch das Präsentieren der nun
erweiterten "Ahnengalerie von schwulen Brüdern im Geiste", die Vorstellung
von der Zugehörigkeit zu einer über Zeit und Raum zusammengehörigen
Gruppe zu befördern.
Die neunziger Jahre |
Seit Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre zeigt sich im öffentlichen Diskurs eine verstärkte Tendenz der Liberalisierung hin zu einer gleichberechtigten, nicht mehr pathologisierten, schwulen Identität. Diese Entwicklung ist ein dem Konsumkapitalismus und seiner permissiven Sexualmoral inhärentes Phänomen: "Das Schwule" wurde zunächst als "das Andere", "das Exotische" voyeuristisch präsentiert, um mit vermeintlichen Sensationen ein Massenpublikum zu unterhalten. "Das Schwule" konnte sich aber im Mediendiskurs etablieren, nicht zuletzt auch deshalb, weil zahlreiche prominente Schwule nicht länger ein Geheimnis aus ihrer sexuellen Orientierung machten und die sexuelle Verhandlungsmoral der neunziger Jahre kaum noch "Perversionen" kennt (vgl. Schmidt 1996). Gleichzeitig wurden Schwule auch als kaufkräftige Konsumenten entdeckt.
Die Vorstellung einer heterosexuell-homosexuellen Dualität entpuppte
sich schnell als unzulänglich, da viele Individuen sich selbst nicht
in dieser Polarität, die ja nur das Geschlecht des präferierten
Liebes- und Sexualobjektes als Definitionsmerkmal zugrundelegt, wiederfinden
konnten. Die "Bisexualität" tauchte als weitere Kategorie verstärkt
im öffentlichen Diskurs auf und zog das Öffnen weiterer Definitionsschubladen
nach sich.
Ausgehend von den USA wurden diese Überlegungen, insbesondere
von Lesben, nicht zuletzt beeinflußt durch die Auseinandersetzung
mit den Überlegungen des französischen Philosophen Michel Foucault,
Reflexionspunkt wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit Homosexualität.
In der "Schwulen"- und der "Lesben"-Geschichtsschreibung wurde das Entstehen
der Kategorien "homosexuell" und "heterosexuell" im 19. Jahrhundert wesentlicher
Forschungsgegenstand. Eine breite internationale Fachdebatte über
das Wesen der Homosexualität setzte ein: KonstruktivistInnen vertreten
die Ansicht, der homosexuelle Charakter sei eine spezifische Erfindung
der Sexualwissenschaft westlicher Gesellschaften des 19. Jahrhunderts (in
Wechselwirkung mit den Aussagen "Betroffener") und damit eine Kategorie,
die klar historisch zu verorten sei, während EssentialistInnen der
Ansicht sind, daß es Homosexualität, wie wir sie heute verstehen,
immer und in allen Kulturen gegeben habe. Während die Perspektivenveränderung
durch die Foucault-Rezeption auf internationaler Ebene schon fast als abgeschlossen
zu betrachten ist, hat diese Diskussion Deutschland erst gerade erreicht.
Hier wird noch in guter essentialistischer Tradition die Ahnengalerie aufgehängt.
Ein gutes Beispiel hierfür ist auch die 1997 in Berlin gezeigte
Ausstellung "Goodbye to Berlin? 100 Jahre Schwulenbewegung". Beeindruckend
an ihr ist das umfangreiche zusammengetragene Material, das zahlreiche
neue Einsichten ermöglicht. Dennoch ist das Konzept nicht auf dem
Stand der internationalen Forschung, da es konstruktivistische Ansätze
fast völlig ignoriert. Bereits im Vorwort des Kataloges wird eine
durchgehende "schwule" Traditionslinie durch die Jahrhunderte bis heute
behauptet: "Teilweise gab es in den europäischen Städten bereits
im Mittelalter und in der frühen Neuzeit schwule Netzwerke, die auf
einer gruppenspezifischen Solidarität basierten. Stets existierte
auch eine literarische und künstlerische Auseinandersetzung mit der
gleichgeschlechtlichen Liebe oder Homosexualität, die in ihren Traditionen
bis in die Antike zurückreicht und immer ganz eigenständige,
von den politischen Organisationsformen zumeist unabhängige Resultate
hervorgebracht hat. Vieles, was Künstler, Literaten und Tänzer
in diesem Zusammenhang geschaffen haben, läßt sich erst aus
heutiger Sicht in seiner schwulen Dimension entschlüsseln" (Goodbye
to Berlin 1997: 13). Es soll nicht bestritten werden, daß die Netzwerke
von Sodomitern in einigen frühneuzeitlichen Städten zur Vorgeschichte
des modernen Homosexuellen gehören, sie sind diesem aber keineswegs
gleichzusetzen. Und die umstandslose Einbeziehung der Antike und des Mittelalters
ergibt vollends ein schiefes Bild. Hier wird nicht mehr in erster Linie
das prominente oder exponierte Individuum als Identifikationsfigur angeboten,
sondern gleich eine Vielzahl von Individuen als Teile der (konstruierten)
Gruppe, die darüber hinaus noch untereinander solidarisch gewesen
sein sollen. Dies ist wissenschaftlich nicht haltbar. Im Gegensatz zu ihren
Vorläufern, den Ahnengaleristen, erheben die Ausstellungsmacher einen
Totalitätsanspruch der schwulen Vergangenheit: Vieles, das geschaffen
wurde, läßt sich als schwul entschlüsseln. Mensch könnte
auch sagen: In Alles läßt sich das Schwule hineininterpretieren.
In einigen Abteilungen der Ausstellung wird ein Bild konstruiert, das
die obrigkeitliche Repression auf der einen Seite und das "schwule" Leben
auf der anderen Seite einander gegenüberstellt, so als sei Homosexualität
per se oppositionell und subversiv. Hier spiegelt sich ein Stück Bewegungsromantik
der siebziger Jahre, die sich in die neunziger Jahre hinübergerettet
hat. Insgesamt feiert das Konzept der Ausstellung das Schwulsein in einer
Weise ab, die ein kritisches Hinterfragen dieses Identitätskonstruktes
ausschließt.
Die Ausstellung zeigt in vielen Bereichen den Stand der Geschichtsforschung über gleichgeschlechtlich orientierte Männer in den neunziger Jahren in Deutschland auf: Die Quellenbasis hat sich weiter vergrößert, insbesondere literarische Texte und Werke der Bildenden Kunst werden verstärkt ausgewertet. Neben der Professionalisierung des Semi-Professionellen - Ausdruck dessen sind nicht zuletzt das Bestreben, eine Magnus-Hirschfeld-Stiftung zum Einwerben von Forschungsgeldern zu schaffen, sowie die Gründung eines Dachverbandes schwuler Historiker 1997 - kennzeichnet die neunziger Jahre auch, daß schwule Geschichtsforschung in erster Linie der gesellschaftlichen Anerkennung dient, nicht mehr der Gesellschaftskritik.
Erst allmählich beginnt die universitäre Geschichtswissenschaft
in Deutschland, die Geschichte der (Homo-)Sexualität als Forschungsgegenstand
ernstzunehmen. Ausdruck dessen ist auch, daß 1990 erstmals eine Dissertation
zur Geschichte der Verfolgung homosexueller Männer in der NS-Zeit
erschien (Jellonnek 1990). Neben der Frauengeschichte beginnt nun die Geschichte
der "Homosexualität" in den etablierten Wissenschaftsbetrieb einzudringen,
ein Prozeß, der in anderen westlichen Ländern, vor allem in
den Niederlanden und den USA, bereits früher einsetzte und sehr viel
fortgeschrittener ist. So gibt es an drei niederländischen Universitäten
institutionalisierte "Homostudies", wo auch historische Forschung betrieben
wird. In den USA wird seit etlichen Jahren von etablierten Wissenschaftlern
über "schwule" Geschichte geforscht und gelehrt. In Deutschland gibt
es nur an der Universität Bremen seit 1995 institutionalisierte "SchwulLesbische
Studien". Während in vielen Ländern auch ein breiter Forschungsstand
über die "Sodomiter" des Mittelalters und der Frühen Neuzeit
existiert, ist dieses Forschungsfeld in Deutschland noch wenig bearbeitet
(Hergemöller 1989, 1994). Die fast ausschließliche Konzentration
auf das 20. Jahrhundert, insbesondere auf die NS-Zeit, ist ein spezifisch
deutsches Phänomen.
Nach wie vor stößt die Geschichtsforschung über gleichgeschlechtlich
orientierte Menschen auf Schwierigkeiten: Von bornierten Archivaren werden
Quellen vernichtet, wie jüngst im Hamburger Staatsarchiv geschehen
(Micheler et al. 1996); Forschungsmittel sind kaum vorhanden, die Finanzierung
der SchwulLesbischen Studien in Bremen ist ausgelaufen. Oft sind es nur
Einzelpersonen oder kleine Gruppen, die die Forschung tragen, ohne materielle
oder institutionelle Absicherung.
Seit kurzem erscheinen diverse schlecht gearbeitete populärwissenschaftliche
Darstellungen "der" "schwulen" Geschichte, die wissenschaftlich unbrauchbar
sind (Blazek 1996; Feustel 1995). Diese Publikationen befriedigen ein offenbar
gewachsenes Interesse an "schwuler" Geschichte, das aber in einem oberflächlichen
Unterhaltungs- und Identifikationsbedürfnis steckenbleibt.
Zusammenfassung und Thesen |
Die Entwicklung der historischen Forschung über gleichgeschlechtliches
Sexualverhalten ist unserer Ansicht nach sehr eng mit der gesellschaftlichen
Entwicklung und der Entwicklung der "Schwulenbewegung" verknüpft:
Sie ist Symptom und Ausdruck des Selbstverständnisses gleichgeschlechtlich
orientierter Männer. Außerdem verläuft die Geschichtsschreibung
über gleichgeschlechtliches Sexualverhalten hinsichtlich ihrer Fragen,
Blickwinkel, Gegenstände und Methoden analog zu den Entwicklungen
der Geschichtswissenschaft, wobei diese wiederum durch die gesellschaftliche
Lage ("Zeitgeist") bestimmt sind. Grundsätzlich ist Geschichtsschreibung
von Homosexuellen über Homosexuelle ambivalent: Einerseits hat sie
einen emanzipatorischen Charakter, da sie dazu beitragen kann, Homosexuellen
ein positives Selbstverständnis in einer homophoben Umwelt zu vermitteln,
und den Blick von Wissenschaft um einen wesentlichen Gegenstand erweitert.
Andererseits wird in der Regel Geschichte eingeschränkt durch die
Homo-Brille betrachtet, Menschen und ihrem Leben das schwule Identitätskonstrukt
übergestülpt und in diesem Sinne alles subsumiert und gleichgemacht,
was weder emanzipatorisch - sondern im Gegenteil repressiv -, noch wissenschaftlich
seriös ist. Dabei herrscht oft eine völlige Distanz- und Kritiklosigkeit
gegenüber den "schwulen Ahnen", selten wird die Ambivalenz einer der
ihren explizit gemacht.
Frauen werden pauschal in das von Männern erstellte, an Männern
orientierte Konzept Homosexualität eingeordnet, patriarchale Strukturen
werden dabei nicht hinterfragt. Oft auch wird der Eurozentrismus des eigenen
Blickwinkels nicht wahrgenommen.
Ausblick |
Brauchen wir noch die "schwule Ahnenreihe", die "imaginäre Gemeinschaft
der Brüder im Geiste"?
Gegenwärtig erleben Homosexuelle in westlichen Staates eine breite
Toleranz, zumindest im öffentlichen Diskurs. Die Dualität sexueller
Identitäten verwandelt sich in eine Pluralität, und letztlich
ist die Kategorie sexuelle Identität dadurch insgesamt in Auflösung
begriffen. Dies gilt insbesondere für Jugendliche, die in Großstädten
aufwachsen.
Im Klima der scheinbaren Toleranz haben diejenigen, die sich für
das politische Sprachrohr der Bewegung halten, wie der SVD und die Partei-Homogruppen,
ihre Politik auf das Einfordern von Privilegien für Schwule und Lesben
reduziert. Analog dazu schießen schwule Klientelgruppen wie Pilze
aus dem Boden. Auch die jährlichen CSD-Paraden (eben nicht Demonstrationen)
sind als Ausdruck der heutigen Schwulen-"Bewegung" zu begreifen. Was bis
in die achtziger Jahre hinein einen emanzipatorischen und Gesellschaftsordnungen
wie Männlichkeitsbilder hinterfragenden Charakter hatte, ist in den
neunziger Jahren durch den bewußten Verzicht auf politische Aussagen
zu albernen Fun- und Kommerzparaden verkommen, in denen auch geballtes
Mackertum gerne zur Schau gestellt wird. Bezeichnend für die Fun-
und Kommerzorientierung dessen, was einmal eine soziale Bewegung war, ist
auch, daß der Rosa Winkel in den letzten Jahren erst zu einem beliebigen
Werbeaccessoire verkam und dann ganz verschwand. Ein politisches Symbol
- das, wie oben erwähnt, nicht ganz unproblematisch war - wurde durch
die Regenbogenfahne ersetzt, die nichts ausdrückt als "wir sind bunt
und pluralistisch", also reine postmoderne Beliebigkeit. Die "schöne
schwule Welt" ist eben nichts anderes als Aldous Huxleys "Brave New World",
mit der sich nur die Privilegierten oder Resigniert-Habenden arrangieren
können.
Schwulen, die lange unter ihrer Ausgrenzung gelitten haben und die
immer wieder auf die Verfolgung Homosexueller im NS-Staat verweisen, stünde
es gut zu Gesicht, sich solidarisch zu verhalten: für ausgegrenzte
Minderheiten einzutreten, Ausbeutungsstrukturen ideeller und materieller
Natur nicht zu kreieren oder mitzutragen, sondern zu kritisieren und zu
beseitigen sowie dazu beizutragen, diese Gesellschaft in eine wirklich
demokratische zu verwandeln.
Auch unsere Zeit braucht Identifikationsfiguren, auch aus der Vergangenheit,
um dem schwulen Zeitgeist etwas entgegenzusetzen, der durch gut verdienende
Mittelstandshomos geprägt wird, die sich nicht kritisch mit dieser
Gesellschaft auseinandersetzen wollen, sondern abwechselnd Lifestyle-Moden
kreieren oder ihnen hinterherlaufen.
Wir brauchen aber nicht die konstruierten "Schwulen" als Identifikationsfiguren
- denn der Schwule ist eigentlich auch schon ein Anachronismus -, sondern
Menschen - Männer und Frauen -, die für sich Lebensformen jenseits
des Vorgegebenen, jenseits der bürgerlichen Ehe und ihrer Derivate,
jenseits von Ausbeutung und Macht, Besitzdenken und Ausgrenzung gesucht
und vielleicht auch gefunden haben. Menschen, die persönlich, gesellschaftlich
und politisch emanzipatorische Utopien entwickelt haben. Gleichzeitig ist
es wichtig, Geschichte zu befragen, um die Strukturen und Mechanismen von
Macht, Ausgrenzung und Ausbeutung aufzeigen zu können und dadurch
zu ihrer Auflösung beitragen zu können.
Geschichtsforschung über gleichgeschlechtlich orientierte Männer
war und ist oft immer noch die Interpretation der Vergangenheit aus schwuler
Wunschperspektive, bloße Ahnenforschung mit anderen Mitteln. Wünschenswert
wäre ein kritisches Hinterfragen der eigenen Ansätze und Methoden,
eine Reflexion des eigenen Forschens. Dazu gehört auch, Identitätskonstrukte
zu hinterfragen und sie nicht bloß zu verfestigen. Nur dann ist "schwule"
Geschichtsschreibung mehr als die Hinzufügung eines exotischen bunten
Tupfers im bunten Teppich der erforschten Vergangenheit; nur dann trägt
sie dazu bei, den immer noch vorherrschenden zwangsheterosexuellen, patriarchalen
Blickwinkel von Wissenschaft zu verändern.
Literatur |
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